Mittwoch, 14. Oktober 2015

Die Abschlussrede einer erfolgreichen Schülerin - Der Standpunkt einer Schulexpertin


Einer Faustregel zufolge braucht es etwa 10 Jahre, bis ein Mensch eine Art „Expertenstatus“ in dem erreicht, was er tut. So kann ein Mensch nach dem mindestens 10-jährigen Durchlaufen eines Schulsystems (vermutlich gar schon nach wesentlich kürzerer Zeit) sich als Experte für dieses betrachten. Hier nun die Übersetzung der Abschlussrede der amerikanischen Absolventin und Schulexpertin Erica Goldson:


Hier stehe ich
Erica Goldson
25. Juni 2010



Es gibt die Geschichte von einem jungen, aber ernsthaften Zen-Schüler, der einmal seinen Lehrer fragte: „Wenn ich sehr hart und fleißig arbeite, wie lange wird es dauern, bis ich Zen finde?“
Der Meister dachte nach und antwortete: „Zehn Jahre.“
Der Schüler sagte: „Aber, was, wenn ich wirklich sehr, sehr hart arbeite und mich wirklich dafür einsetze, schnell zu lernen?“
Der Meister antwortete: „Nun, dann zwanzig Jahre.“


„Aber, wenn ich wirklich, wirklich daran arbeite, wie lange dann?“ fragte der Schüler. „Dreißig Jahre“, antwortete der Meister.
„Aber, ich verstehe nicht“, sagte der enttäuschte Schüler, „mit jedem Mal, wenn ich sage, ich werde härter arbeiten, sagst du, es wird länger dauern. Warum sagst du das?“
Da antwortete der Meister: „Wenn du ein Auge auf das Ziel hast, hast du nur ein Auge auf den Weg.“

Das ist das Dilemma, welchem ich im amerikanischen Bildungswesen begegnet bin. Wir fokussieren so sehr auf das Ziel – sei es, einen Test zu bestehen oder als Klassenbeste abzuschneiden. Wie auch immer, auf diese Weise lernen wir nicht wirklich. Wir tun, was auch immer notwendig ist, um das uns vorgegebene Ziel zu erreichen.

Manche von euch werden vielleicht denken: „Aber, wenn du einen Test bestanden hast oder Abschiedsrednerin wirst, hast du dann nicht etwas gelernt?“ Nun, ja, du hast etwas gelernt, aber nicht das, was du hättest lernen können. Vielleicht lerntest du nur Namen, Orte und Daten auswendig, um sie später wieder zu vergessen, um deinen Kopf wieder zu leeren für den nächsten Test. Schule ist nicht so, wie sie sein könnte. Im Moment ist sie ein Ort, der die meisten Menschen dazu veranlasst sich das Ziel zu setzen, so schnell wie möglich da rauszukommen. 

Ich habe nun dieses Ziel erreicht: Ich habe einen Schulabschluss gemacht. Ich sollte dies als eine positive Erfahrung betrachten, insbesondere als Klassenbeste. Dennoch, rückblickend nun kann ich nicht sagen, dass ich intelligenter bin als meine Klassenkameraden. Ich kann bezeugen, dass ich lediglich die Beste darin bin, zu tun, was mir gesagt wurde. Dennoch, hier stehe ich, und ich soll stolz darauf sein, dass ich diese Phase der Indoktrination abgeschlossen habe. Ich werde dies hier verlassen, um zu der nächsten Phase überzugehen, die von mir erwartet wird, um das Dokumentpapier zu erlangen, das bescheinigt, dass ich arbeitsfähig bin. Aber ich kämpfe dafür, dass ich ein Mensch bin, eine Denkerin, eine Abenteurerin – nicht nur eine Arbeitskraft. Eine Arbeitskraft ist jemand, der in der Wiederholung gefangen ist – ein Sklave des Systems, welches vor seiner Zeit aufgestellt wurde. Aber jetzt habe ich erfolgreich gezeigt, dass ich der beste Sklave war. Ich tat das, was mir aufgetragen wurde, bis zum Äußersten. Während andere in der Klasse saßen und vor sich hinkritzelten, um später großartige Künstler zu werden, saß ich in der Klasse, um mir Notizen zu machen, um eine großartige Testbesteherin zu werden. Während andere ohne Hausaufgaben in die Klasse kamen, weil sie lieber eigenem Interesse zuliebe anderes gelesen hatten, habe ich niemals eine Aufgabe versäumt. Während andere Musik erschufen oder Texte schrieben, entschied ich mich, Extrapunkte zu sammeln, obwohl ich sie niemals brauchte. Also frage ich mich, warum wollte ich überhaupt diese Position? Sicher, ich verdiente sie, aber was kommt dabei heraus? Wenn ich die Bildungsinstitutionen verlasse, werde ich dann erfolgreich sein oder für immer verloren? Ich habe keinen blassen Schimmer davon, was ich mit meinem Leben anfangen will; ich habe keine Interessen, weil ich jedes Studienfach als Arbeit ansah, und ich war in jedem Fach hervorragend – nur mit dem Ziel, hervorragend zu sein, nicht um zu lernen. Und, ganz ehrlich: Ich fürchte mich sehr.

John Taylor Gatto, ein in Ruhestand getretener Lehrer und aktiver Kritiker der Pflichtbeschulung stellt fest: „Wir könnten die besten Qualitäten der Jugend stärken – Wissbegierde, Abenteuerlust, Ausdauer, die Fähigkeit zu überraschenden Einsichten – einfach, indem wir flexibler wären bezüglich Zeit, Texten und Tests; indem wir Kinder begleiteten, wirklich kompetente Erwachsene zu werden; und indem wir jedem Schüler/jeder Schülerin die Autonomie zugestünden, die er oder sie bräuchte, um hier und da ein Risiko einzugehen. Aber wir tun dies nicht.“ 

Zwischen diesen Betonmauern wird von uns allen erwartet, gleich zu sein. Wir werden darauf trainiert, jeden standardisierten Test mit Bravour zu bestehen; und diejenigen, die abweichen und das Licht durch eine andere Linse betrachten, sind wertlos im allgemeinen Schulsystem und werden daher mit Geringschätzung betrachtet.

H. L. Mencken schrieb in The American Mercury im April 1924, das Ziel der öffentlichen Schule sei nicht,

„die Jugend unserer Gattung mit Wissen zu füllen und ihre Intelligenz zu wecken. ... Nichts könnte von der Wahrheit weiter entfernt sein. Das Ziel ... ist schlichtweg, so viele Individuen wie möglich auf das gleiche sichere Level zu reduzieren, eine standardisierte Bürgerschaft zu züchten und zu trainieren, um Meinungsvielfalt und Originalität zu reduzieren. Das ist ihr Ziel in den Vereinigten Staaten.“ (Gatto)

Um diesen Gedanken zu verdeutlichen: Verstört euch denn nicht der Gedanke, etwas über die Idee des „kritischen Denkens“ zu lernen? Gibt es denn so etwas wie „unkritisches Denken“? Denken ist die Verarbeitung von Informationen, um eine Meinung zu bilden. Wenn wir aber nicht kritisch sind bei der Verarbeitung dieser Information, denken wir dann wirklich? Oder akzeptieren wir dann eher stumpfsinnig andere Meinungen als Wahrheiten?

Das ist es, was mir geschah, und wenn es nicht die seltene Begebenheit einer avantgardistischen Englischlehrerin in der 10. Klasse gegeben hätte, Donna Bryan, die mir ermöglichte, meinen Verstand zu öffnen und Fragen zu stellen, bevor ich die Lehrmeinung in den Lehrbüchern akzeptierte, wäre ich verloren gewesen. Jetzt bin ich erleuchtet, aber mein Verstand und mein Geist fühlen sich noch immer schwerverletzt. Ich muss mich neu bilden und immer wieder erinnern, wie verrückt dieser angeblich gesunde Ort wirklich ist.

Und nun bin ich hier: in einer Welt, die von Angst geleitet wird; einer Welt, welche die Einzigartigkeit eines jeden von uns unterdrückt; einer Welt, in welcher wir entweder den durch Konzerne und Materialismus beeinflussten menschenverachtenden Unsinn dulden oder auf einem Wandel bestehen. Wir werden nicht belebt durch ein Bildungssystem das uns heimlich für Jobs ausrüstet, die automatisiert werden könnten, für Arbeit, die nicht benötigt wird, für sklavische Abhängigkeit ohne jegliche Inbrunst für sinnvolle Leistung. Wir haben im Leben keine Wahlmöglichkeiten, wenn die Kraft, die uns anregt, das Geld ist. Die uns anregende Kraft sollte die Leidenschaft sein, aber diese ist von dem Moment an verloren, in dem wir einen Fuß in ein System setzen, welches uns trainiert statt inspiriert.

Wir sind mehr als roboterartige Bücherregale, die darauf konditioniert sind, die Fakten auszuspucken, die uns in der Schule gelehrt wurden. Wir alle sind ganz besonders, jeder Mensch auf diesem Planeten ist ganz besonders. Also, verdienen wir alle nicht etwas Besseres? Verdienen wir es nicht, unseren Geist für Innovatives zu gebrauchen, statt zum bloßen Erinnern? Für Kreatives statt für sinnlose Beschäftigungen? Zum Nachsinnen statt für Stagnation? Wir sind nicht hier, um einen akademischen Grad zu bekommen, um dann einen Job zu bekommen, damit wir eine von der Wirtschaft anerkannte Beschwichtigung nach der anderen konsumieren. Da ist mehr und noch mehr.

Das Traurigste an der Geschichte ist, dass die Mehrheit der Schüler nicht die Gelegenheit hat, so zu reflektieren, wie ich es getan habe. Die Mehrheit der Schüler durchläuft die gleichen Gehirnwäsche-Techniken, die dazu bestimmt sind, selbstgefällige Arbeits-Streitkräfte zu erschaffen, die im Interesse großer Unternehmen und heimlichtuerischer Regierungen arbeiten – und das Schlimmste daran ist: Sie sind demgegenüber vollkommen unwissend.

Ich werde niemals in der Lage sein, diese 18 Jahre zurückzudrehen. Ich kann nicht davonlaufen in ein anderes Land mit einem Bildungssystem, welches dazu bestimmt ist, zu erhellen, zu erleuchten statt zu konditionieren. Dieser Teil meines Lebens ist vorüber, und ich möchte sicherstellen, dass kein anderes Kind in seinem Potenzial unterdrückt wird durch Kräfte, die zur Ausbeutung und zur Kontrolle bestimmt sind. Wir sind Menschen. Wir sind Denker, Träumer, Forscher, Künstler, Schriftsteller, Ingenieure. Wir sind alles, was wir sein wollen – aber nur, wenn wir ein Bildungssystem haben, das uns unterstützt, statt uns festzuhalten, niederzurichten. Ein Baum kann wachsen, aber nur, wenn seine Wurzeln in gesundem Boden wachsen.

An diejenigen unter euch, die weiterhin an Pulten sitzen und sich den autoritären Ideologien von Lehrern unterwerfen müssen: Seid nicht entmutigt. Ihr habt noch immer die Gelegenheit, aufzustehen, Fragen zu stellen, kritisch zu sein und eure eigene Perspektive zu erschaffen. Fordert Rahmenbedingungen, die euch intellektuelle Ressourcen zur Verfügung stellen, die eurem Geist ermöglichen zu wachsen statt ihn zu lenken. Beansprucht, dass ihr in der Klasse interessiert seid. Besteht darauf, dass die Rechtfertigung „Du musst das lernen für den Test“ für euch nicht gut genug ist. Bildung ist ein ausgezeichnetes Werkzeug, wenn es richtig genutzt wird, aber fokussiert mehr darauf, euch zu bilden anstatt gute Noten zu bekommen.

An diejenigen unter euch, die innerhalb dieses Systems arbeiten, das ich anprangere: Es ist nicht meine Absicht, jemanden zu beleidigen, ich beabsichtige, anzuregen. Ihr habt die Kraft, die Unfähigkeit und Untauglichkeit dieses Systems zu verändern. Ich weiß, dass ihr nicht Lehrer oder Verwaltungsbeamte geworden seid, um gelangweilte Schüler zu sehen. Ihr könnt nicht die Autorität der Aufsichtsräte und Steuerungsorgane dieser Institution akzeptieren, die euch sagen, was ihr zu lehren habt, wie ihr zu lehren habt, und dass ihr bestraft werdet, wenn ihr euch dem nicht fügt. Unser Potenzial steht auf dem Spiel.

Denjenigen unter euch, die nun diesen Betrieb verlassen, sage ich, vergesst nicht, was in diesen Klassenräumen geschah. Lasst nicht diejenigen im Stich, die nach euch kommen. Wir sind die neue Zukunft und wir werden nicht die Tradition bestehen lassen. Wir werden die Mauern der Korruption (des Verderbens) niederreißen und einen Garten des Wissens gedeihen lassen in ganz Amerika. Einmal richtig ausgebildet werden wir die Macht haben, alles zu tun, und am besten werden wir diese Macht nur für das Gute gebrauchen, damit wir kultiviert und weise werden. Wir werden nichts von scheinbarem Wert akzeptieren. Wir werden Fragen stellen und wir werden die Wahrheit verlangen.

Hier stehe ich also. Ich bin nicht von allein Abschiedsrednerin geworden. Ich wurde durch mein Umfeld geformt, durch all die Gleichaltrigen, die hier sitzen und mich beobachten. Ich hätte dies ohne euch alle nicht erreichen können. Ihr alle seid es, die mich genau zu der Person gemacht haben, die ich heute bin. Ihr alle seid meine Konkurrenz gewesen, sogar noch mein Rückgrat. In dieser Hinsicht sind wir alle Abschiedsredner.

Ich soll nun Lebewohl zu dieser Institution sagen, zu denen, die sie erhalten, und zu denen, die neben mir und hinter mir stehen, aber ich hoffe, dieser Abschied ist mehr ein „bis später“, wenn wir alle zusammenarbeiten um eine pädagogische Bewegung aufzuziehen. Doch zunächst lasst uns diese Papierstücke holen, die uns mitteilen, dass wir klug genug sind, um das zu tun!

1 Kommentar:

  1. Na wenn das mal keinen Kritik am Schulsystem ist. Schön, dass es noch Menschen gibt, deren Gehirn nicht gewaschen wurde, während mehr als einem Jahrzehnt in einer Belehrungs- und Erziehungsanstalt.

    Danke, liebe FranKlin, für diesen Beitrag.

    Gruß Matti

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