Samstag, 4. Juli 2020

Gedanken einer "Schulhasserin"

"Als ich noch zur Schule ging, wurde ich oft gefragt, ob es mir gefiele. Manchmal sagte ich ja, manchmal nein. Allerdings dachte ich nicht viel darüber nach, denn ich fand, dass es egal wäre. Ob es mir nun gefiel oder nicht, ich hatte keine andere Wahl - zumindest glaubte ich das. Auf abstrakte Weise glaubte ich sogar an die Schule: an Ausbildung, Lernen, große Schriftsteller, Dichter, Denker und all das. Meine Noten waren ausgezeichnet, obwohl ich Hausaufgaben hasste - und sie nur selten machte. Ich fühlte mich deswegen eher schuldig als stolz. Auch der mangelnde Respekt, mit dem meine Altersgenossen und ich lebten, störte mich nicht, weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, von Erwachsenen anders behandelt zu werden."

Als ich vor 9 Jahren diesen Blog ins Leben gerufen und die ersten Beiträge geschrieben hatte, bat ich meine Schwester, ihn einmal in einem ihrer (völlig themenfremden) Foren zu teilen und um Meinungen dazu zu bitten ... 

In kürzester Zeit brach eine Flut von Nachrichten herein, die - abgesehen von etwa zweien - vor Empörung und Ablehnung strotzten (damals war Bloggen noch nicht sooo in Mode wie heute und der Begriff "Shitstorm" war mir noch völlig unbekannt, aber ich glaube, heute würde man es so nennen). Ich war sehr betroffen... "Schulhasserin" und dergleichen nannten sie mich... 

Ich hatte kein dickes Fell, das hat mich damals gedanklich sehr beschäftigt. Ich las meine ersten Beiträge wieder und wieder mit der Frage, ob ich Dinge angreifend, abwertend, aggressiv oder polemisch ausgedrückt hatte und bemühte mich um sehr bedachte  Formulierungen...


Wie war ich denn zu diesem Blog gekommen??

Ein kleines Mädchen hatte mich dazu gebracht, über Schule nachzudenken. Sie war schon vor der Einschulung sehr unglücklich gewesen bei der Aussicht, in die Schule zu müssen, und hatte mir energisch gesagt "Ich will da nicht hin!"

Was... was... was?? Wie? Und jetzt...?

Zur gleichen Zeit arbeitete ich in einer Kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis als Psychologin und stellte fest, dass die meisten Probleme, mit denen junge Menschen und ihre Familien zu uns kamen, mit Schule zu tun hatten. Ich hörte Geschichten, bei denen mir das Herz weh tat... Ich sah tolle junge Menschen - die ich als völlig gesund und richtig empfand - mit denen nun irgend etwas nicht stimmen sollte ...

Den entscheidenen Kick für die Idee dieses Blogs versetzte mir ein Buch, das mir irgendwann in die Hände fiel. Ich dachte zunächst über die Gründung einer eigenen Schule nach, weil mir viele Sachen an der "normalen Schule" nicht gefielen. Sie gefielen mir allein schon deshalb nicht, weil ich mich an so viele Erkenntnisse aus dem Psychologiestudium erinnerte über den Menschen - darüber wie er lernt, wie sein Gehirn und seine Psyche "funktionieren" und beschaffen sind - die mich fragen ließen: "Wieso wird das in den Schulen denn noch so gemacht, wo es doch völlig den psychologischen und hirnphysiologischen Erkenntnissen widerspricht??" Ich habe es einfach nicht verstanden!!

Und dann stieß ich auf das Teenager Befreiungs Handbuch. Geschrieben von einer amerikanischen ehemaligen Lehrerin. Bei ihrer Haltung jungen Menschen gegenüber ging mir das Herz auf!! Respektvoll, würdigend, liebevoll. Und dieses Buch war voll mit Geschichten von jungen Menschen, die ohne Schule lernten... und das war so unglaublich faszinierend für mich, dass ich dachte: "Das müssen die Menschen doch mal erfahren! Dass es auch noch ganz anders geht."

In den letzten 9 Jahren ist viel geschehen... ich habe viel anderes gelesen, viele, viele, viiiele weitere Geschichten von jungen Menschen und ihren Familien gehört und mitbekommen. Von viel Gewalt erfahren, die junge Menschen tagtäglich erleben. Habe mehrere Artikel geschrieben. Vieles durchdacht und meine Haltung immer wieder hinterfragt...

Ja, am Anfang war ich empört und eine bis dahin unbekannte Seite in mir war erwacht und wagte es, die Schule zu kritisieren! (Nebenbei bemerkt: Die Schule wird schon so lange kritisiert, wie es sie gibt.)

Ich selbst war eine brave und gute Schülerin gewesen, angepasst, teilweise still leidend, aber niemals infragestellend. Ich habe ein gutes Abitur gemacht, habe also eigentlich keinen Grund, mich zu beschweren...

Jedoch erkenne ich heute Dinge, die ich damals nicht erkannte, sehe heute Dinge, die mich entsetzen und empören. Denn erstens geht es nicht um mich und nicht um diejenigen, die gern zur Schule gehen, die gut mit ihr klar kommen, für die alles in Ordnung ist. Es geht um all diejenigen, für die nicht alles oder sogar gar nichts in Ordnung ist. Diejenigen, die leiden, die Schaden erleiden, die mit Angst und Bauchschmerzen dort ein und aus gehen oder am liebsten gar nicht mehr hingehen würden...

Zweitens ist Schule - nein, besser gesagt Kindheit! - heute nicht mehr so wie vor 20-30 Jahren - in meiner Zeit damals vor 2000. Einiges hat sich in eine besorgniserregende Richtung entwickelt...

Trotz aller Kritik an Schule geht es mir heute nicht mehr um Schule!

Es geht mir um den Menschen, den jungen Menschen, der hier und heute groß wird. Als was wird er gesehen? Wie wird er behandelt? Wird er respektiert? Wird er ernst genommen? Werden seine Bedürfnisse berücksichtigt? Wird seine Würde geachtet? Und dies egal an welchem Ort!

Wir könnten jeden Ort bzw. Kontext nehmen: Ein Krankenhaus, eine Arztpraxis, ein Kinderheim, ein Seniorenheim, einen Verein, eine Schule, eine Familie, einen Arbeitsplatz ... 

Entscheidend ist die Frage: Geht es dem Menschen dort gut, wird er respektiert und respektvoll behandelt? Fühlt er sich respektiert und ernst genommen?

Und was ist, wenn nicht? Kann/darf er dann etwas an dem Ort verändern oder ihn verlassen??




Was denkt ihr darüber? Welche Erfahrungen macht ihr oder habt ihr gemacht?

 Neugierig, Eure vermeintliche "Schulhasserin"


Falls Du mich und mein Engagement unterstützen möchtest :)

Mittwoch, 22. November 2017

Mein Buchtipp Nr. 1: Das Teenager Befreiungs Handbuch

Ich möchte dir ein Buch vorstellen und ans Herz legen, welches mich sehr bewegt, inspiriert und nachdenklich gemacht hat. Seit ich es gelesen habe, gehe ich kaum an einem Teenager vorbei ohne den Wunsch ihn anzusprechen und dieses Buch zu empfehlen mit den Worten "Ich wünschte, das hätte ich schon in deinem Alter gekannt." Als ich es damals las, wohnte ich direkt gegenüber einer Schule und hätte am liebsten ein fettes Plakat mit dem Buchtitel an mein Fenster geklebt, damit alle Schüler (und Lehrer) davon erfahren sollten. 

Nachdem meine kleine, damals 23-jährige Schwester es angefangen hatte zu lesen, bekam ich eine SMS von ihr, in der sie schrieb: "Ich habe gerade das Gefühl, ich weiß zum ersten Mal, was ich machen will... und dass ich einige Zusammenhänge erkenne...".

Das Buch ist voller Geschichten von jungen Menschen, die frei, selbstbestimmt, meist ohne, aber auch mit Schule sich bilden. Diese Geschichten waren es, die mich dazu brachten, diesen Blog ins Leben zu rufen. Ursprünglich wollte ich hier immer wieder abgeschriebene Geschichten reinstellen - aber es kam anders, denn mir kamen schnell viele Ideen.


Die amerikanische Autorin Grace Llewellyn war zunächst Lehrerin, bevor sie diesen Beruf aufgab, um Das Teenager Befreiungs Handbuch: Glücklich und erfolgreich ohne Schule zu schreiben. Sie ist eine Vorkämpferin für Bildungsfreiheit in den USA. Über ihre Arbeit als Lehrerin schreibt sie, dass sie dadurch die Gelegenheit hatte, "die hässlichsten Aspekte des Schulwesens zu sehen, und meine immer schon vorhandene Neigung, mich gegen Autorität aufzulehnen oder mich zumindest darüber lustig zu machen, kam sogleich zum Vorschein und entwickelte sich weiter."

Auf der Buchrückseite ist Folgendes zu lesen:
Du glaubst, Lernen sei das, was du aus der Schule kennst: Vorgekaute Häppchen von vorgegebenem Stoff, unter ständiger Kontrolle, ob du auch wirklich alles geschluckt hast. Das hat mit echtem Lernen ungefähr so viel zu tun wie das zwangsweise Wettessen belegter Brote unter Aufsicht mit dem festlichen Verspeisen eines köstlichen, von dir selbst frei zusammengestellten Menüs. Dieses Buch liefert die Speisekarte. Das Menu ist: DEIN Leben. Guten Appetit!
Das Handbuch ist für alle, die jemals zur Schule gegangen sind, aber es ist vor allem ein Buch für Teenager und Leute, die mit Teenagern zu tun haben.
Hier kannst du einen Blick ins Buch werfen.
 

Montag, 26. Juni 2017

Was passiert mit dem neuen Menschen, der auf die Welt kommt?

Müsste der Mensch anders sein, damit die Welt besser wird? 
Braucht es einen neuen Menschen? 
In einem meiner Lieblingsinterviews sagte Hans A. Pestalozzi (s.u.) seine Meinung dazu:

Es braucht keinen neuen Menschen.
Jedes neugeborene Kind ist ein neuer Mensch.

Und dann schauen Sie mal, was mit diesem neuen Menschen geschieht – das ist doch das Verheerende!
Sie dürfen nie sagen:
„Es ist so! Der Mensch ist nicht in der Lage, der Mensch ist nicht fähig“,
sondern wenn Sie sagen, das ist die einzige Möglichkeit zum Überleben, dass die Menschen selber bestimmen,
dann müssen Sie die eine einzige Frage stellen:
Warum ist der denn heute nicht in der Lage?

Und das ist, was ich immer erwähne mit der Schule und mit der Erziehung usw.
Überlegen Sie doch mal, was mit dieser Schule los ist:

Jedes Kind lernt gerne, freiwillig, mit Begeisterung.
Alles was es braucht zum Leben lernt es freiwillig mit Begeisterung
bis es in die Schule kommt,
dann ist aus, dann braucht's Notenzwang, Selektionszwang, Hausaufgabenzwang.

Jedes Kind ist kreativ, unheimlich kreativ
bis es in die Schule kommt:
Nach zwei, drei Jahren ist Schluss, es muss ja immer nur wiedergeben, wiedergeben.

Jedes Kind ist emotional
bis es in die Schule kommt,
dann ist Schluss, dann muss es rational sein, es muss alles über den Kopf ablaufen.

Jedes Kind ist solidarisch,
lebt zusammen mit seinen Freundinnen und Freunden, bildet Banden und Gruppen,
bis es in die Schule kommt.
Plötzlich muss es gegen den Mitmenschen sein, das ist ja das Prinzip der Schule,
das Kind wird ja nie dran gemessen, wie es leben kann,
es wird nie daran gemessen, wie es zusammenleben kann mit den anderen,
sondern es muss von einem Tag auf den anderen besser sein als das andere.
Es muss schneller rechnen können, schöner schreiben können, heller singen können, weiter springen können usw.
Es muss das andere übertrumpfen, das andere unterdrücken
und dann steht ihm das Leben offen.
Jetzt sehen Sie doch mal, was mit dem neuen Menschen, das jedes Kind ist, geschieht, wenn es mal erzogen wird, wenn es pädagogisiert wird...

Der Schweizer Hans A. Pestalozzi (geb. 1929, gest. 2004) war in seinem Leben Major bei der Armee gewesen und später Manager in einem großen Schweizer Konzern. Als er immer kritischer wurde und Dinge hinterfragte, wurde er fristlos entlassen. Der Ex-Manager war Gesellschaftskritiker, schrieb Bücher und war ein gefragter Redner. Das Interview zu seinem Buch "Auf die Bäume ihr Affen", aus dem hier nur ein kleiner Ausschnitt zitiert ist, ist eines meiner Lieblingsinterviews und voll von sehr anregenden Aussagen!

Dienstag, 1. März 2016

Die Geschichte vom geistig behinderten Thomas Edison

Eines Tages kam Thomas Edison von der Schule nachhause und gab seiner Mutter einen Brief. Er sagte ihr: „Mein Lehrer hat mir diesen Brief gegeben und sagte mir, ich solle ihn nur meiner Mutter zu lesen geben.“

Die Mutter hatte die Augen voller Tränen, als sie dem Kind laut vorlas: „Ihr Sohn ist ein Genie. Diese Schule ist zu klein für ihn und hat keine Lehrer, die gut genug sind, ihn zu unterrichten. Bitte unterrichten Sie ihn selbst.“
Viele Jahre nach dem Tod der Mutter, Edison war inzwischen einer der größten Erfinder des Jahrhunderts, durchsuchte er eines Tages alte Familiensachen. Plötzlich stieß er in einer Schreibtischschublade auf ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Er nahm es und öffnete es. Auf dem Blatt stand geschrieben: „Ihr Sohn ist geistig behindert. Wir wollen ihn nicht mehr in unserer Schule haben.“ 

Edison weinte stundenlang und dann schrieb er in sein Tagebuch: „Thomas Alva Edison war ein geistig behindertes Kind. Durch eine heldenhafte Mutter wurde er zum größten Genie des Jahrhunderts.“

(aus dem Englischen übersetzt: Bhajan Noam)

Entnommen diesem schönen Blogbeitrag, in dem sich auch ein paar wunderbare Edison-Zitate befinden:

Mittwoch, 14. Oktober 2015

Die Abschlussrede einer erfolgreichen Schülerin - Der Standpunkt einer Schulexpertin


Einer Faustregel zufolge braucht es etwa 10 Jahre, bis ein Mensch eine Art „Expertenstatus“ in dem erreicht, was er tut. So kann ein Mensch nach dem mindestens 10-jährigen Durchlaufen eines Schulsystems (vermutlich gar schon nach wesentlich kürzerer Zeit) sich als Experte für dieses betrachten. Hier nun die Übersetzung der Abschlussrede der amerikanischen Absolventin und Schulexpertin Erica Goldson:


Hier stehe ich
Erica Goldson
25. Juni 2010



Es gibt die Geschichte von einem jungen, aber ernsthaften Zen-Schüler, der einmal seinen Lehrer fragte: „Wenn ich sehr hart und fleißig arbeite, wie lange wird es dauern, bis ich Zen finde?“
Der Meister dachte nach und antwortete: „Zehn Jahre.“
Der Schüler sagte: „Aber, was, wenn ich wirklich sehr, sehr hart arbeite und mich wirklich dafür einsetze, schnell zu lernen?“
Der Meister antwortete: „Nun, dann zwanzig Jahre.“

Samstag, 12. April 2014

Gute Frage: Schule Schwänzen? Und die Folge... für den "Schulschwänzer"?

Gefunden unter gutefrage.net:
Hallo, ich bin 16 Jahre (m) alt und geh auf ein Gymnasium. In letzter Zeit habe ich oft geschwänzt,....ich weiß , dass das nicht gut ist...und habe auch immer ein schlechtes Gewissen gegenüber meiner Mutter desswegen....mein kopf sagt, dass ich in die Schule muss, aber mein körper bleibt einfach liegen....ich bin schon so weit, dass es mit Bußgeld geregelt wird.....doch ich bleibe dennoch liegen...obwohl es bei uns finanziell nicht so gut läuft...doch das schlimmste ist, dass ich mitbekommen habe, dass meine Mutter auch eine Anzeige bekommen kann/bekommt..kann man das nicht auch ohne Anzeiger regeln, denn meine Mutter versucht echt alles um das zu regel und ich will sie nicht belasten..... Also: Kann man das auch alles ohne Anzeige für meine Mutter regeln?

Dienstag, 28. Januar 2014

Von einem eisigen Morgen im Januar in einem Jahr wie jedes andere


Diesen Beitrag habe ich zum ersten Mal am 25.01.2013 veröffentlicht - aber, da er noch immer nicht weniger aktuell und heute wieder und noch Januar ist, wenn auch nicht überall eisig ...
„Ein eisiger Januar-Morgen. Noch ist es dunkel. Die dünne Schneedecke dämpft die Geräusche. Die winterliche Natur lädt uns zur Winterruhe, zur Rückbesinnung ein. Warum fühlen sich Menschen nicht als Bestandteil der Natur und ihrer Kreisläufe? Warum dürfen sie sich die Winterruhe nicht gönnen, wie alle anderen Geschöpfe?
Noch bevor die ersten Sonnenstrahlen den Tagesanbruch ankündigen, stehen sie da, wie allmorgendlich, jahraus, jahrein, und warten auf den Bus. Vor sieben hat sie die Pflichterfüllung an diese Haltestelle gebracht: jene Schülerinnen und Schüler, die der Bus nun zur Schule befördern wird. Werden sie, die da so tapfer warten, auch so tapfer den Vormittag durchstehen, bis der Bus sie mittags wieder heimbringt? Oder wird bloß ihr Körper anwesend sein, indes ihr bereits belasteter Geist sich gegen die vielen Schreib-, Lese-, Rechen- und anderen unzähligen Aufgaben zur Wehr setzen wird? Wie anwesend sind Menschen, die unnötiges, unbrauchbares Zeug einpauken müssen – oder die sich langweilen?
Um solche Mißstände wissen wir. Wir wissen auch um die Widersinnigkeit solcher Lernmethoden. Ebenso wissen wir darum, daß solcher Tagesrhythmus weder gesundheitsgerecht ist noch förderlich für die Erfahrungsfreude. Wir sehen auch die anfängliche und allmählich schwindende Wißbegierde junger Menschen. Weshalb dann so ein Attentat auf die Lebendigkeit? Wie begründen?
Wie können wir ihr Stehen zur nächtlichen Winterstunde begründen? Mit dem Fahrplan, der an verkehrstechnische und personalbedingte Zwänge gebunden ist und sich an den schulischen Stundenplan anpassen muß, welcher wiederum die Erfordernisse der arbeitenden Bevölkerung zu berücksichtigen hat?
Begründen?
Oder sollen wir es damit begründen, daß sie, die 7-, 8- oder 15-, 16-jährigen (fahren sie danach nicht ohnehin mit ihrem Mofa umher?) früh dressiert und an Pflichten gewöhnt werden sollen – ‚wo kämen wir sonst hin, wenn wir uns nach dem Lustprinzip richteten?‘!
Oder begründen wir es damit, daß es so am bequemsten ist: die geliebten Kinder sind wir los, indem wir sie sinnvoll beschäftigt wissen! Nun können wir all unsere Ideale auf sie übertragen, insbesondere jenes, daß sie es mal besser haben sollen, wofür wir uns aufgeopfert haben. Los-Sein: die Lösung, die unser Gewissen und unsere Nerven entlastet. Sich der Schule zu entledigen, würde fürwahr das Ende der Bequemlichkeit bedingen und einläuten!
Dies ist eine der Seiten eines vielfältigen Spannungsverhältnisses, und zwar die Seite, die uns betrifft. Diese Seite könnte uns dazu bewegen, die Schule zum Inbegriff des Bösen zu erheben, uns mitschuldig an ihrem Wirken zu fühlen. Wie naheliegend die Verführung, eine geschickte Verschwörungstheorie aufzubauen! Sind denn diese Kinder, die da auf den Bus warten, nur Projektionsobjekte unserer leidvollen Vergangenheit, an denen wir uns entschädigen, uns also schadlos halten? Sind sie nur Übertragungsempfänger hehrer Ideale? Wer gibt uns das – nach Überheblichkeit stinkende – Recht zum Mitleid mit ihnen?
Sind sie, die bei dunkler und kalter Nacht zur Schule fahren, nicht auch selbstbestimmte Träger und Präger ihrer Lebendigkeit, ihres Hoffens, ihres Handelns? Wer sagt uns, daß sie nicht auch anders handeln könnten, wenn sie wollten? Wer sagt uns, daß sie nicht sogar freiwillig zur Schule fahren, darauf wartend, auch bald selber an der ihnen im Augenblick vorenthaltenen Macht teilhaben zu können? Daß sie froh sind, dem Elternhaus zu entfliehen, um mit netten Menschen zusammenzukommen? Vielleicht ist ihnen der Schulalltag sogar ‚wurscht‘, nachdem sie seine Verlogenheit erkannt haben und sie das Rollenspiel der bestmöglichen Anpassung, als Grundlage für Erfolg, so meisterhaft beherrschen, daß sie ihre Ruhe haben? Was artikuliert der Spruch: ‚Sie wollen nur unser Bestes – doch wir werden es ihnen nicht geben!‘?
Es ist gleichgültig, ob sie aufgrund subtiler Manipulationen, wie ich sie weiter oben dargestellt habe, wollen sollen, was sie tun, oder ob sie von innen heraus wollen, was sie müssen. Der Konflikt offenbart sich erst, wenn sie nicht wollen, wenn sie nicht wollen.“


Dieser Text entstammt dem Beitrag Stell dir vor es ist Schule – und niemand geht hin! des Philosophen Bertrand Stern (enthalten in dem von Johannes Heimrath herausgegebenen Sammelband Die Entfesselung der Kreativität – Das Menschenrecht auf Schulvermeidung). Auf der Rückseite des Buches heißt es:


„Dieser Sammelband basiert auf Vorträgen, die auf einem Symposium des Vereins ‚Freies Lernen ohne Schulzwang (FLOSZ)‘ im Juni 1987 sowie auf dem 6. Regensburger Kongreß im Oktober 1987 gehalten wurden. (…)
Der Band greift  den hochaktuellen und gesellschaftspolitisch brisanten Bereich der Entschulung und Entstaatlichung des Bildungswesens auf. Er liefert provokative Thesen zur Begründung und Notwendigkeit einer freien Bildung in einer offenen und demokratischen Gesellschaft.“


 1987! Vor 25 Jahren, einem viertel Jahrhundert!

In der Zeit zwischen beiden Veranstaltungen, auf denen der Band basiert, bin ich eingeschult worden, genauer am 1. September 1987 (meine kleine persönliche Anekdote dazu am Rande: In der Nacht zum 1. September bin ich mit fürchterlichen Bauchschmerzen aufgewacht und habe mich übergeben müssen. Diese Begebenheit ist mir sehr im Gedächtnis geblieben und für mich heute von höherer symbolischer Bedeutung als damals ...)
Was mich wirklich entsetzt, ist die Erkenntis, dass schon vor so langer Zeit von engagierten Menschen, die sich für eine freie, dem Menschen würdige und ihn würdigende Bildung einsetzten, etwas beschrieben und aufgegriffen wurde, woran sich anscheinend bis heute rein gar nichts geändert hat. Im Gegenteil: Die Notwendigkeit einer freien Bildung ist in meinen Augen heute von größerer Brisanz als je zuvor!

Was geschieht, wenn sie nicht wollen? Dürfen sie nicht wollen?
Im Jahr 2012 (dem Jahr, in dem die Welt nicht unterging, somit wir also weitere Gelegenheit haben, sie zu verbessern, indem wir uns z.B. über die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte Gedanken machen) stellte Bertrand Stern in einem Vortrag seinem Publikum diese Fragen. 

"Unsere Schulgesetze (Ländergesetze) sagen nein. Unser Grundgesetz sagt ja." 

Und nun?    


***
 Nachtrag am 28.01.2014

Zitat aus dem Beschluss eines Familiengerichts aus dem Jahre 2013:

„... dem steht auch nicht entgegen, dass die Kinder auch in ihrer persönlichen Anhörung geäußert haben, die Schule nicht mehr besuchen zu wollen, denn aufgrund ihres Alters sind sie schon objektiv nicht in der Lage, die Tragweite einer solchen Entscheidung einschätzen zu können ...“
***


 „Allein wie halten Sie es mit der Annahme, da der junge Mensch doch nur ein ‚Kind‘ sei, könne er unmöglich entscheiden, was jetzt und vor allem später wichtig ist? Dies beleidigt nicht alleine die Potenz des Menschen; dieser eklatante Verstoß gegen die Grundzüge unserer Verfassung ist zumindest skandalös – wenn nicht sogar kriminell!“ (S. 22)
 
„Wird aber der Subjekt-Status infragegestellt, dann verkommt die Person zum Objekt, das seine autonome Selbstdefinition – eben weil er Mensch ist – abgibt an eine äußerlich orientierte Definitionsmacht. Der Unterschied ist gravierend, denn der Status als Objekt bedingt jene heimlichen und unheimlichen Herrschaften, die mit dem stets auftauchenden Alibi des Wohlmeinenden vorgeben, das Objekt zum Guten, zum Besseren hin zu führen…“

„das Fundament einer freiheitlichen Demokratie, die ihr Selbstverständnis in eine Verfassung kleidet, ist die Bedingungslosigkeit und Unbedingtheit des Subjektstatus der Person. Dieser Status ist an nichts gebunden, an keine Leistung und Vorleistung, an kein Alter (und keine Jugend!), an keinen Ursprung, an kein Geschlecht… Im Sinne des Grundgesetzes ist die Person ein Mensch, eben weil er ein Mensch ist – Punktum! Sollte diese Unbedingtheit als Vorzeichen der demokratischen Verfaßtheit Geltung haben, so gilt sie in besonderer Weise für Menschen, die aus welchen Gründen auch immer in der Gefahr stehen könnten, ohne die staatlichen (Verfassungs-)Garantien ‚unter die Räder‘ zu kommen: Deshalb müssen gerade junge Menschen als Subjekte anerkannt und respektiert werden, dies gilt ganz besonders in Hinblick auf ihre freie Entscheidung. Auch wenn Sie, als pädagogisch Denkende und Handelnde, es sich nicht vorstellen können, weil sie davon womöglich ausgehen, der junge Mensch wäre gar nicht fähig, frei zu entscheiden, weil er die Konsequenzen noch gar nicht absehen könnte: Wenn die Begriffe Mensch, Freiheit und Würde… etwas bedeuten sollen, dann müssen sie ernst genommen werden – oder aber sie sind widersinnig, sinnentleert, nur eine Worthülse, eine Lüge, eine Selbsttäuschung. Zur Verdeutlichung: Bedingt die Parole ‚Freiheit‘ nicht geradezu, daß jemand eine Entscheidung auch dann fällen darf, wenn eine andere Person diese Entscheidung als verkehrt betrachtet und diese zu akzeptieren vermag? Haben Männer über Jahrhunderte nicht vorgegeben, aus einem gewiß wohlmeinenden Patriarchat heraus zu wissen und entscheiden zu können, was für Frauen, die nicht als Subjekte galten und anerkannt wurden, das Richtige und das Gute sei? […]

Nochmals: Sind Schüler wirklich auch Menschen? Die Frage läßt sich leicht beantworten: Schenkt ihnen das postulierte Menschsein wirklich die Möglichkeit, selbstbestimmt, würdevoll und kompetent zu entscheiden, was sie wollen? Nehmen wir als ein Beispiel die natürliche Wissenslust, die Offenheit, die sozialen Fähigkeiten des Menschen: Kann nun eine jede Person selbstbestimmt entscheiden, wann sie was von wem und mit wem und in welcher Weise erfahren möchten? Oder werden sie zu Schülern gemacht?“ (S.50f)


Gedanken einer "Schulhasserin"

"Als ich noch zur Schule ging, wurde ich oft gefragt, ob es mir gefiele. Manchmal sagte ich ja, manchmal nein. Allerdings dachte ich...