Dienstag, 30. April 2013

Die Würde des jungen Menschen ist... antastbar...


Das Schicksal Schule hat einen Anfang und ein Ende... und eine lange Zeit dazwischen...
 
- Ein Drama in drei Akten -



"...um die Verdrängung aufrechtzuerhalten, wollen sie es nicht mehr wissen, 
daß die Oase des Heranwachsens eine Zeit ist, in der die Welt nicht nur anders gesehen wird, 
sondern in der eine andere, bessere Welt eine realistische Perspektive ist. 
Aus ihnen selbst hat man den Glauben an eine bessere Welt erst herausgeprügelt 
und später im Berufsleben nachdrücklich verdeutlicht, 
daß eine bessere Welt nur etwas für Träumer ist, die im 'wirklichen' Leben scheitern. 
Irgendwann blieb dann nur die Resignation und - um nicht in Apathie zu verfallen - die Identifikation mit den Unterdrückern, aus der man wieder Selbstbewußtsein entwickeln konnte."
 - Hans-Eckbert Treu -

 

2. Akt

Eine Geschichte aus der Mitte

- Du musst... und wenn ich deinen Willen brechen muss... -

Es ging um das Thema Gewalt in der Erziehung. Jemand sagte, dass es doch gar nicht ohne Gewalt gehe, denn manchmal gebe es ja auch Situationen, in denen man "Gewalt" anwenden müsse, um jemanden zu retten - und dann kommen Beispiele, die häufig an dieser Stelle genannt werden: "Wenn mein Kind auf die Straße rennen will und ich zupacke und es so fest am Arm packe, dass es vielleicht danach blaue Flecken hat...", "Es ist doch besser, ich haue dem Kind auf die Hand, eh es auf die heiße Herdplatte fasst" ...

Eine Lehrerin erzählt ein Erlebnis, über das sie sich Gedanken macht. Ein Schüler wollte - wie so oft - nach der Pause nicht in den Unterricht gehen. Sie hat sonst immer freundlich auf ihn eingeredet, aber diesmal wollte sie keine Diskussion. Diesmal sollte er einfach mal ohne Diskussion tun, was sie sagt. Diesmal musste er auch mal da durch, dass sie ihn körperlich dazu bewegte, also ihn festhielt und mitnehmen wollte. Er wehrte sich, schmiss sich auf den Boden. Leider war in dem Moment keiner der männlichen Lehrerkollegen in der Nähe, kein starker Mann. Aber zwei weitere Lehrerinnen eilten zu Hilfe. Der Junge drohte, wegzulaufen, auf die Straße zu rennen. Da bekamen sie Angst und hielten ihn noch mehr fest... so lange, bis er irgendwann in sich zusammensackte und weinte. Die Lehrerin dachte: dann muss er jetzt eben auch mal weinen!

Während sie erzählt, wird ihre Unsicherheit spürbar: ob es richtig war, was sie getan hatte? Ihnen allen war danach schlecht zumute gewesen. Aber sie hatte ja Glück gehabt: Als die Mutter später davon erfuhr, sah sie es zum Glück genauso, dass es gut und richtig war, den Jungen festzuhalten, damit er endlich mal lernt. Sie war einsichtig und kooperativ. Sie hätte ja auch eine andere Einstellung haben können, und dann wäre es problematisch gewesen. Durften sie das überhaupt, diesen "Körpereinsatz"? Ihr wurde gesagt, nein, eigentlich nicht. Wenn das notwendig ist, dann ist ein Kind vielleicht schwer oder nicht beschulbar - und muss vielleicht auf eine "besondere" Schule (wie nennt sich sowas, Schule für Schwererziehbare? Sonderschule?). An solchen Schulen sei es eher üblich, Kinder mit einem gewissen Körpereinsatz zu bewegen... (ich glaube, erlaubt ist dies nicht).


Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. 
 Die Freiheit der Person ist unverletzlich.
Grundgesetz Artikel 2, Absatz 2  

Wer nun denkt: "Das hätte man auch anders lösen können. Das hätte nicht so eskalieren müssen. Man hätte auch respektvoller mit dem Jungen umgehen können." - der hat sicher Recht. Aber: was hätte man da lösen müssen? Es gibt einen entscheidenden Gedanken, der neben allen anderen bereits genannten "muss"-Gedanken, diesem Szenario zugrunde liegt: "Der Junge muss (doch) beschult werden!"

Nein, es sind noch mehr: Der Junge muss erzogen werden! Der Junge muss doch hören, er weiß doch nicht, was gut für ihn ist! ...und ganz entscheidend: "Es gibt Dinge, da muss man halt durch!

Aber: Ist das wirklich, wirklich wahr??? Was wäre, diese Menschen würden das nicht denken? Würden sie sich dann nicht ganz entscheidend anders verhalten?

"Es stellt sich die Frage, warum der Druck sich immer gegen die Kinder kehrt und es nur in wenigen Fällen zu einem Aufbegehren gegen das Schulsystem kommt. Die Angst vor der Wiederkehr des Verdrängten, mit der alles, was man erreicht hat, was Identität vermittelt, in Frage gestellt wird, läßt die Eltern zu Verfolgern der eigenen Kinder werden. Legitimiert wird dieses Verhalten meist mit Phrasen: 'Uns hat es ja auch nicht geschadet' oder 'Wir mußten da auch durch und haben es dennoch zu etwas gebracht'."
- Hans-Eckbert Treu -

Ich habe in bereits zwei früheren Beiträgen ("Von Philosophen und Katzenbabys..." und "Eine Schulgeschichte...") eine ganz wesentliche Frage gestellt, die ich (anscheinend) nicht oft genug wiederholen kann: 
Wie konnte es dazu kommen, dass unsere Vorstellung von der Bedeutung einer Institution und ihres vermeintlichen Sinnes und Zweckes dazu führt, dass Menschen so wenig "Mensch" sind? 
Die Geschichte zeigt, dass es sich in bezug auf Schule bei dieser Frage nicht nur um die Menschen handeln kann, die innerhalb dieser arbeiten. Was ist eigentlich mit der Person, die dem Jungen am nächsten steht, die ihn liebt - diejenige Person, welche die Letzte sein müsste, die sich nicht an die Seite ihres Sohnes stellt? Was geht hier vor?

Der Soziologe Hans-Eckbert Treu (den ich unübersehbar schon zweimal zitiert habe), hatte schon vor langer Zeit eine Antwort darauf:  
"Zu dieser Pervertierung von Erziehung konnte es kommen, da Angst anstelle von Liebe in die Beziehung der Eltern zu ihren Kindern getreten ist. Angst, die daraus resultiert, daß die Menschen sich eine Welt geschaffen haben, in der es zu den Grunderfahrungen gehört, daß gegen ein spontanes Leben entsprechend der menschlichen Bedürfnisstruktur mit Härte und Rücksichtslosigkeit vorgegangen wird."
Das beantwortet die Frage: Wie können wir das zulassen? - Aus Angst! Angst, die anscheinend blind und taub macht...

Wenn also ein junger Mensch - ein "Schüler", ein "Minderjähriger", ein "Kind" - sagt, was er will bzw. vielmehr, was er nicht will - wenn er die "Erwachsenen" also mit einem "Nein, danke!" konfrontiert (und das können längst nicht alle genau so sagen, zumindest nicht mit Worten, die meisten senden diese Botschaft durch Symptome wie Kopf- und Bauchschmerzen, Angst, aggressives Verhalten, Unruhe, Lustlosigkeit, "Faulheit" - oder unterstreichen sie durch ihre Körpersprache, schmeißen sich z.B. auf den Boden), dann kriegen die Erwachsenen Angst, fühlen sich hilflos, ohnmächtig. Und warum? Weil sie erinnert werden an ihre eigene Hilf- und Machtlosigkeit, als sie einst "Kinder" waren. Und anstatt daraus zu lernen - und dankbar zu sein für diese Chance, endlich weiter zu wachsen und zu heilen! - verdrängen und bekämpfen sie diese Gefühle ganz schnell und diejenigen, die sie ausgelöst haben: ihre Kinder. ... 

Ich bin keine Juristin und habe von unserem Rechtswesen im Grunde keine Ahnung, aber es gibt ein paar Gesetze, die mich nachdenklich stimmen. Zum Beispiel gibt es im Bürgerlichen Gesetzbuch unter dem Titel "Elterliche Sorge" den § 1666 Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls, dessen erster Absatz lautet:
Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.
Ich hatte mir die Frage schon häufiger gestellt z.B. im Zusammenhang mit Mobbing oder anderen Formen von Gewalt an Schulen, wenn jemand beispielsweise regelmäßig gehänselt, beschimpft, ausgegrenzt oder sogar verprügelt wird: Ist es nicht die nächstliegende Lösung zu sagen "Da geh ich nicht mehr hin!" (oder "da brauchst Du nicht mehr hinzugehen")? Wäre das nicht die effektivste Form von Gefahrenabwendung? Oder andersherum gefragt: Einen Menschen immer wieder dazu zu bringen oder zu zwingen, in diese Situation zurückzukehren oder dort zu verbleiben - bedeutet dies nicht eindeutig Unwillen und Unfähigkeit, Gefahr für das Wohl eines Menschen, für seine Selbstbestimmtheit und körperliche, geistige und seelische Unversehrtheit abzuwenden?

Aber, ich will Euch was sagen: die armen Eltern! Wenn sie sich denn auf die Seite ihrer Töchter und Söhne stellen, werden sie schnell pauschal als überbehütende "Übermütter" (oder "Überväter" - gibt es auch dies?) bezeichnet, die ihre Kinder vor allen Gefahren beschützen wollen, denen man aber doch ausgesetzt werden muss, um widerstandfähig zu werden und Frust aushalten zu lernen. Dahinter verbirgt sich u.a. das Gebot: "Du darfst nie vor Konflikten davonrennen (egal wie machtlos Du Dich fühlst und wie aussichtslos Dir Deine Situation erscheint)!" Hätte die Mutter in meiner obigen Anekdote nicht "zum Glück" zustimmend reagiert, wäre sie mit Sicherheit als uneinsichtig, schwierig und vor allem als unkooperativ bezeichnet worden. Unter einem enormen Anpassungsdruck, aus Hilflosigkeit und Angst werden "die Eltern [in der Schulzeit] endgültig zu Verfolgern ihrer Kinder" - so bezeichnet es H.-E. Treu.  
"Die Eltern stehen voll im Dienst der Schule und leisten damit auch einen Beitrag zur Zerstörung der Einmaligkeit der Persönlichkeit ihrer Kinder. [...] Schule war schon immer eine kinder feindliche Organisation, seitdem sie die gesellschaftliche Funktion übernahm, durch einen systematisch geordneten Unterricht die Übermittlung des Kulturgutes zu sichern."


Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit,
soweit er nicht die Rechte anderer verletzt...
Grundgesetz Artikel 2, Absatz 1


Junge Menschen haben in dieser Hinsicht aber nochmal "besondere" Rechte. Im "Achten Buch Sozialgesetzbuch - Kinder und Jugendhilfegesetz" gibt es einen §1 Recht auf Erziehung, Elternverantwortung, Jugendhilfe, dessen erster Absatz besagt:
Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.
Es ist doch schön, dieses Recht zu haben, auf das ich jemand anderen hinweisen kann, sollte er sich weigern, mich zu erziehen und meine Entwicklung zu fördern - wenn ich das will! Ich darf genausogut sagen: Nein danke, ich brauche keine Förderung zu meiner Entwicklung - ich möchte mich gern frei entfalten! Ich möchte diese Aussage einmal ganz klar anhand meiner persönlichen Meinung unterstreichen: die "freie Entfaltung meiner Persönlichkeit" ist meines Erachtens unvereinbar mit, vielmehr entgegengesetzt zu einer "Förderung meiner Entwicklung".

Aber, ich hab gut reden: ich bin ja auch schon 32 Jahre alt! Du, mein liebes Kind, mein liebes Schülerlein, bist doch noch gar keine eigenverantwortliche und gemeinschaftsfähige Persönlichkeit! Du musst erst dazu entwickelt und erzogen werden! Von daher ist §1 irgendwie etwas unehrlich formuliert, denn eigentlich müsste es heißen: 
Jeder junge Mensch hat die Pflicht, sich in seiner Entwicklung fördern und erziehen zu lassen (ich ergänze: und sich bilden zu lassen, sprich: Pflicht zur Beschulung) zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit (und diese Pflicht hat er zu seinem... sagen wir mal: 18. Geburtstag erfüllt!)
(genaugenommen ist auch dies nicht richtig, denn den Begriff der "Pflicht" habe ich an anderer Stelle schon einmal erläutert:  
 "Voraussetzung dafür, eine Pflicht erfüllen zu können, ist, dass ich auch die Möglichkeit habe, mich anders zu verhalten, dass ich also wählen kann, wie ich mich verhalten will."
 "Beim Zwang habe ich nicht die Wahl, er schränkt meinen Handlungsspielraum ein und ich habe nicht "die Möglichkeit zur Ausübung einer moralischen Pflicht".
Aber, wer will denn hier so kleinlich sein? Wo kommen wir denn hin bei dieser Wortklauberei?)  

Um endgültig zur Paragraphenreiterin zu werden, möchte ich noch einen weiteren nennen: § 1626 Elterliche Sorge, Grundsätze, Absatz 2 aus dem Bürgerlichen Gesetzbuch: 
Bei der Pflege und Erziehung berücksichtigen die Eltern die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes zu selbständigem verantwortungsbewusstem Handeln. Sie besprechen mit dem Kind, soweit es nach dessen Entwicklungsstand angezeigt ist, Fragen der elterlichen Sorge und streben Einvernehmen an.
(ich weiß: amateurmäßig schmeiß ich hier Gesetze aus verschiedenen Gesetzbüchern durcheinander, jeder scheint sich hier im Umgang mit Kindern an anderes halten zu müssen - oder nicht? Ich nehme mir nun einfach die Freiheit oder Frechheit heraus, alle Erwachsenen zusammenzuschmeißen, da sich mir nicht erschließen soll, warum für Lehrer nicht dasselbe gelten soll wie für Eltern - schließlich verhalten sich beide ja als "Erziehungspartner"!)


Somit wird schlussendlich die obige Geschichte plausibel: Wer sich unerlaubt und entwicklungsungemäß herausnimmt, eigenverantwortlich seinen Willen - oder schlimmer: Unwillen - kundzutun, der hat es dringend nötig, zurechtgewiesen zu werden: "Das steht Dir nicht zu! Das kannst Du noch nicht entscheiden!"

Natürlich hätte man das etwas einfühlsamer machen können!
"Aber, es hat genützt", sagt die Lehrerin, "seitdem gibt es kein Theater mehr. Seitdem hört er sofort - ich brauche ihn manchmal nur streng anzuschauen."

Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Grundgesetz Artikel 1, Absatz 1


In einem Kommentar zum ersten Teil dieses "Dramas in drei Akten" zitiert die Autorin Teresa Eigenmacht witzigerweise den Pädagogen Prof. Kurt Singer mit einem Satz, den ich ursprünglich als erste Idee eines Titels für diesen Beitrag hatte - nicht weniger passend, als der, den ich dann schließlich wählte (der Kommentar ist überdies übrigens sehr lesenswert und ich danke sehr dafür!):

„Die Würde des Schülers ist antastbar.“


(Beiläufig möchte ich noch hinzufügen, dass sich Rechte nach dem Grundgesetz, Sozialgesetzbuch oder dem Bürgerlichen Gesetzbuch sicherlich auch nochmal hinsichtlich der Konsequenzen unterscheiden, die aus ihnen folgen. Interessant wird es, wenn wir auch noch ins Strafgesetzbuch gucken - was ich an dieser Stelle des Umfangs wegen nicht getan habe, aber vielleicht noch nachholen werde.)

Literatur: 
Hans-Eckbert Treu habe ich zitiert aus seinem Essay Wie die Angst Eltern zu Verfolgern ihrer Kinder werden läßt, erschienen in dem Buch Kindheit - ein Begriff wird mündig. Miteinander wachsen statt erziehen.

2 Kommentare:

  1. Wie wahr, wie wahr...
    man braucht aber sehr viel Geduld, Fingerspitzengefühl und Empathiefähigkeit, in einer Situation richtig zu reagieren, sie richtig einzuschätzen und den Schüler richtig einzuschätzen. Das gelingt nicht immer, leider. Aber dafür sind Lehrer auch nur Menschen... wenn es aber nicht nur ein "sicherer" Job ist, sondern auch mit Liebe zum Fach und den Kindern ausgeübt wird, kann es gelingen...auch wenn es verdammt viel Kraft kostet. Und ich glaube, dass größte Problem liegt heutzutage darin, dass zu wenig gegenseitiger Respekt existiert. Respekt vor einer Autoritätsperson, aber auch der eigentlich als selbstverständlich gegebene Respekt vor einem anderen Menschen.

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  2. Die Kinder sehen doch auch, das überall Gewalt herrscht z.B. in den Nachtichten, viele Kinder wollen z.B. auch gar nichts lernen.
    Kann nur schlechter werden. L.g. Ina

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Gedanken einer "Schulhasserin"

"Als ich noch zur Schule ging, wurde ich oft gefragt, ob es mir gefiele. Manchmal sagte ich ja, manchmal nein. Allerdings dachte ich...