Witzig finde ich zum Beispiel, dass der gute Justus Liebig, ein deutscher Chemiker des 19. Jahrhunderts, nach dem ein als anspruchsvoll oder gar "elitär" verschrienes Gymnasium in Gießen benannt wird, ein Schulabbrecher war. Eigentlich war er das, was heute als "Freilerner" bezeichnet wird. Bei Wikipedia kann man über seine interessante Lebensgeschichte Folgendes lesen:
Justus Liebig wurde als Sohn eines Drogisten und Farbenhändlers in Darmstadt geboren. Schon früh experimentierte er mit den Materialien, die er in der Werkstatt seines Vaters vorfand, und entwickelte dadurch eine starke Neigung zur Chemie. Auch die chemischen Experimente, die von Schaustellern auf Jahrmärkten vorgeführt wurden, weckten sein Interesse, insbesondere die Herstellung von Knallerbsen, bei der er das Knallquecksilber erstmals kennenlernte.
Den Besuch des Ludwig-Georgs-Gymnasiums in Darmstadt beendete er schon in der Sekunda. Einer seiner Lehrer bewertete seine intellektuellen Fähigkeiten mit den Worten: „Du bist ein Schafskopf! Bei Dir reicht es nicht mal zum Apothekenlehrling.“ Tatsächlich brach Liebig eine Apothekerlehre in Heppenheim vorzeitig ab, da er bei seinen privaten Versuchen mit Knallsilber einen Dachstuhlbrand in der Apotheke verursachte.
Er kehrte nach Darmstadt zurück und half seinem Vater in der Werkstatt. Nebenher besuchte er oft die großherzogliche Bibliothek, um sich in der Chemie als Autodidakt aus Büchern und durch private Untersuchungen fortzubilden.
Durch Vermittlung seines Vaters begann Justus im Herbst 1819 ein Chemiestudium in Bonn bei Karl Wilhelm Gottlob Kastner, der sein Talent schnell erkannte und ihn als Assistenten in seinem Labor beschäftigte. ... Im März 1822 nahm Liebig, ... an Demonstrationen der freiheitlich gesinnten Studenten gegen die Obrigkeit teil. Als Folge davon wurde er von der Polizei gesucht und musste nach Hause fliehen. Sein Lehrer Prof. Kastner erwirkte wenig später ..., dass Liebig ein Stipendium zum Studium an der Pariser Universität Sorbonne bewilligte, damals ein führendes Zentrum der Chemie. ...
Bald trat er mit eigenen Arbeiten über Knallquecksilber hervor, wodurch der Naturforscher Alexander von Humboldt auf ihn aufmerksam wurde. Auf Grund von dessen Empfehlung an den hessischen Großherzog wurde der erst 21-jährige Liebig im Mai 1824 außerordentlicher Professor für Chemie und Pharmazie an der Ludwigs-Universität Gießen [diese Uni trägt heute Liebigs Namen!]; ein Jahr später wurde er ordentlicher Professor. Seine Arbeitsbedingungen spiegelten das bis dahin geringe Ansehen der chemischen Fakultät wider: Sein Gehalt war gering, und für Geräte, Chemikalien, Kohle usw. erhielt er nur minimale Zulagen. So musste er viele dringend benötigte Apparate und Materialien aus der eigenen Tasche bezahlen, um überhaupt lehren zu können. Trotzdem fand er bei den Gießener Studenten auf Grund seiner Lehrmethoden schnell großes Interesse und Zulauf. ...
Seine Lehrmethode, seine Entdeckungen und Schriften machten ihn bald in ganz Europa bekannt und berühmt mit der Folge, dass neben vielen Deutschen auch zahlreiche Ausländer, darunter 84 Engländer und 18 Amerikaner, nach Gießen kamen, um Liebigs Vorlesungen über Chemie und Pharmazie zu hören. ...
Berufungen [an sechs namhafte Universitäten] lehnte er ab, konnte aber jedes Mal durch Bleibeverhandlungen mit dem zuständigen Ministerium seine finanzielle und berufliche Situation verbessern. Als dann allerdings die Universität München ... bei ihm sondierte, König Maximilian II. von Bayern ihn persönlich einlud und ihm in einer Privataudienz den Bau eines neuen Chemischen Instituts mit daneben liegendem Wohnhaus ... anbot und ihm weitgehende Freiheit in Lehre und Forschung zusicherte, konnte er nicht widerstehen.
Bevor ich zusammenfassen möchte, was wir von Liebigs Lebensgeschichte über Bildung lernen können, möchte ich eine andere kleine Geschichte erzählen über einen 10-jährigen Jungen, die ich vor ein paar Wochen hörte.
Der Junge komme in der Schule überhaupt nicht klar, weil er viel zu langsam sei, weil er nicht lesen könne, weil er eine diagnostizierte „Rechenschwäche“ (Dyskalkulie) habe. Aber: wenn es um Themen gehe, die ihn interessierten, dann habe er ein Detailwissen, welches teilweise den Erwachsenen die Kinnlade runterklappen lasse. Er wisse alles über Flugzeuge, kenne sämtliche Namen von Pflanzen und Pilzen, habe ein außerordentlich gutes Allgemeinwissen und sei sprachlich äußerst gewandt. Sein Vater arbeite in einem Schlossmuseum und der Junge wisse alle möglichen Details, die sich um dieses Museum drehen. Zusammenfassend kann man etwa sagen: Alles, was dieser Junge weiß, hat er außerhalb der Schule gelernt! Aber, welche Bedeutung hat diese Tatsache?
Die Lehrer nehmen den großen Wissensschatz wahr und ebenso die Tatsache, dass er offensichtlich intelligent ist - aber leider erfüllt er die schulischen Anforderungen nicht und fehlt zudem so häufig, dass sie ihn nicht so recht zu benoten wissen. Der Junge steht vielleicht davor, die Klasse wiederholen zu müssen.Was zeigt uns nun Liebigs Geschichte? Wo und wie hatte er die Interessen entwickelt, die für seinen Weg wichtig waren? Welche Bedeutung hatte es, dass er seinen Interessen und Neigungen nachgehen konnte? Wie wichtig war es, dass andere Menschen seine Talente erkannt und ihm genau die Unterstützung und den Rahmen geboten haben, eben diese zu entfalten? Liebigs Lehrer hatte Recht: Bei Liebig reichte es nicht zum Apothekerlehrling! Glücklicherweise hatte auch Liebig das erkannt - und seine Bildung selbst in die Hand genommen! Wäre er nie aus der Schule und der Beschulungsideologie ausgestiegen, wäre er vielleicht nie der berühmte Justus Liebig geworden, nach dem nun eine Universität und Straßen benannt sind - und Schulen! Wieso Schulen? Irgendwie paradox, oder? Ob Liebig das recht gewesen wäre? Ob die Schüler der Liebigschulen wissen, dass Liebig ein Schulabbrecher war?
Und der 10-jährige Junge? Ob auch seine Lehrer recht haben? Ja, haben sie: Bei ihm reicht es nicht zum Schüler! Er ist vermutlich zu mehr bestimmt. Könnte nur auch er seine Bildung selbst in die Hand nehmen... aber nein, er tut es ja bereits - es sieht nur keiner. Alle denken stattdessen: "Schade, er ist eigentlich so klug, aber für die Schule reicht es nicht, in der Schule versagt er - der Arme!" Niemand denkt: "Na siehste mal, der braucht keine Schule, der braucht was ganz anderes." (Sie alle miteinander wissen auch vermutlich nicht, dass Noch-nicht-Lesen-können im Alter von 10 Jahren nur ein Problem ist, wenn und weil man zur Schule geht; denn wie die Erfahrungen von unbeschulten "Spätlesern" zeigen, so übertreffen diese meist schnell das entsprechende Altersniveau der Lesefähigkeit und lesen dann vor allem aus Freude und Begeisterung!)
Was braucht er? Menschen, die an ihn glauben, die ihn unterstützen, die seine Talente anerkennen als das, was ihn auf seinem Weg leitet; als das, was ihn befähigt, sich selbst zu bilden. Menschen, die die Bedingungen schaffen, die es ihm ermöglichen, sich selbst zu bilden. Er braucht das, was auch alle anderen brauchen! Er braucht Freiheit, die Freiheit zur Teilnahme an der Vielfalt der Möglichkeiten, sich zu bilden - an der Vielfalt der Welt und des Lebens.
Er ist Autodidakt, genau wie Justus Liebig einer war. Auch Liebig brauchte Freiheit und hat für Freiheit gekämpft - Freiheit von der Obrigkeit, die (jungen) Menschen ihre Ziele, ihre Vorstellungen, ihre Bildungspläne aufzwingt... würde er dies nicht auch heute noch tun?
Liebig zeigt uns noch etwas: Seine Lehre war so gut, dass Menschen aus aller Welt sozusagen zu ihm kamen, um von ihm zu lernen - freiwillig! Dies war sicher in seinem Sinne, ja, könnte entsprechend seiner Vorstellung gewesen sein, wie der Mensch sich bildet: interessiert, frei und selbstbestimmt!
Was also hat Justus Liebigs Name über der Pforte einer Schule zu suchen?
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen