Ein bezauberndes 9-jähriges Mädchen, ich nenne es Marie, kam mit seinen Eltern zu mir in die Sprechstunde. Die Eltern erzählten, Marie mache sich viele ernsthafte Gedanken, die eigentlich untypisch für einen so jungen Menschen seien. Sie sei "viel zu erwachsen" und sorge sich häufig, dass sie andere Menschen verletzten könnte. Auf mich machte Marie einen sehr feinfühligen Eindruck. Seit ihrer Geburt sei sie ein sehr fröhliches, "pflegeleichtes" und liebenswertes Kind gewesen, immer neugierig, aufgeschlossen und beliebt - eigentlich "immer perfekt".
Seit ein paar Wochen nun sei etwas anders. Die Freundinnen, zu denen Marie immer gerne ging, wollte sie nun nicht mehr besuchen. In der Tanzgruppe, die ihr großen Spaß gemacht hatte, wollte Marie nicht mehr alleine bleiben und weinte sehr, wenn der Papa gehen wollte. Am liebsten wollte Marie mit ihren Eltern zuhause bleiben, da fühlte sie sich sicher.
Marie war seit einiger Zeit in der dritten Klasse. Ich habe schon häufiger gehört, dass es in diesem Zeitraum bei Kindern Veränderungen gibt - die Lust zu Lernen beginnt (spätestens jetzt) nachzulassen und die Ängste steigen. Ist es vielleicht ein Zufall, dass dies genau die Zeit ist, in der Kinder die ersten Erfahrungen mit Schulnoten in Zifferform gemacht haben? Ist es ein Zufall, dass diese Veränderungen mit dem Eintritt in die sogenannte "Übertrittsphase in die weiterführende Schule" und den damit verbundenen Anforderungen und Erwartungen seitens verschiedener Erwachsener einhergehen? (Ich möchte an dieser Stelle diese Fragen nur offen in den Raum werfen und nicht näher darauf eingehen, denn es geht ja um Marie.)
Nachdem Maries Eltern mir immer wieder erzählt haben, wie "perfekt" Marie doch von Anfang an gewesen sei, fragte ich mich: Was kann es für einen jungen Menschen bedeuten, "perfekt" zu sein? Könnte er irgendwann im Leben an einen Punkt angelangen, an dem das Aufrechterhalten dieses "Perfektseins" bedroht ist? War Marie vielleicht gerade an solch einem Punkt angelangt? Angenommen, Marie dachte sich, sie müsse "perfekt" sein, denn schließlich sprachen ihre Eltern ja immer davon und schienen (aus ihrer Sicht) zu erwarten, dass sie "perfekt" sei. Wie muss es auf sie gewirkt haben, als sie entdeckte, dass sie nicht immer "perfekt" sein kann? Dass sie eigentlich nur weniger "perfekt" sein kann als bisher? Wollte sie vielleicht deshalb nirgendwo mehr hingehen, weil überall mögliche Gefahren für ihre "Perfektheit" lauerten? (Nebenbei angemerkt: diese Fragen sind Hypothesen, die hilfreich sein können für Marie und ihre Eltern, sie sollen keine angenommene Wahrheit suggerieren.)
Nun fragst du dich, lieber Leser, bestimmt, was das denn nun alles mit Schulnoten zu tun hat? Ich erfuhr kurz nach meinen Überlegungen noch von Maries Erfahrungen mit Schulnoten. Sie war natürlich auch diesbezüglich "perfekt" gewesen, ihre ersten Noten waren Einsen. Eines Tages kam sie mit einer Zwei nach Hause. Sie hat ganz bitterlich geweint (War dies vielleicht die beängstigende manifestierte Erkenntnis: "Du kannst nicht immer perfekt sein"?).
Ich bin fest davon überzeugt, dass Marie in ihrem Leben schon früher an ihre eigenen "Leistungsgrenzen" gestoßen ist. Dies ist ganz normal und gehört zu unserer Entwicklung dazu. Mit Sicherheit hat sie diese Grenzen, wie eigentlich alle kleinen Kinder - wenn man sie lässt - als ganz natürlich erlebt, als nichts Bedrohliches, als gut (und nicht als Widerspruch zum "Perfektsein" - denn: Unsere Grenzen machen uns ja schließlich nicht weniger perfekt!). Eine Schulnote ist keine natürliche Leistungsgrenze. Es wird oft so getan, als sei sie es: Sie ist es nicht! Und sie wirkt sich auch nicht so aus!
Möge sich jeder nun noch seine eigenen Gedanken dazu machen (und wenn er mag, sie gerne als Kommentar hier hinterlassen)... aber ich frage mich: Wozu diese Bewertung von außen? Wozu diese "Zahl", der immer viel, viel mehr Bedeutung (und Macht) zugesprochen wird, als sie verdient? Aus der viel mehr gemacht wird, als was sie ist: nämlich nur eine "Zahl"! (Und die meisten Lehrer sagen selbst, dass es ihnen oft unmöglich erscheint, das Leistungsfeedback in die Form einer einzigen Ziffer zu pressen, aber sie "müssen" es und tun es irgendwie.)
Marie hat sich (vielleicht) neun Jahre lang voller Vertrauen in sich selbst wunderbar entwickelt, selbst ihre Herausforderungen gesucht und gefunden, an denen sie wachsen konnte. Warum soll sie das nun nicht mehr dürfen (zumindest in der Schule - aber Schule wird ja nun zu einem Synonym für Lernen)? Und vor allem: Warum existiert nicht das Vertrauen darin, dass sie es auch weiterhin aus sich selbst heraus so machen wird?
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